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Armut in Deutschland "Trotz 40 Stunden Arbeit kann man dem eigenen Kind keinen Urlaub finanzieren"

Stand: 31.07.2022 | Lesedauer: 6 Minuten

Von Jörg Wimalasena
Politischer Korrespondent

Mehr als jeder Fünfte in Deutschland kann sich nicht einmal eine Woche Urlaub im Jahr leisten. Wie geht es Familien, die den Sommer seit Jahren immer zu Hause verbringen müssen? Hier erzählen drei Betroffene, wie schwer ein Leben ohne echte Ferien ist. 22,4 Prozent der Deutschen können sich keinen einwöchigen Urlaub leisten. Das teilte die europäische Statistikbehörde (Eurostat) auf eine Anfrage der Linke-Fraktion im Bundestag mit. Bei Alleinerziehenden sind es sogar 42,2 Prozent, für die Urlaubsreisen unbezahlbar sind. Quelle: WELT

WELT fragt drei Betroffene, was es für sie und ihre Familien bedeutet, die Sommerferien zu Hause verbringen zu müssen. Um die Privatsphäre der Interviewpartner zu schützen, bleiben diese anonym.

"Eigentlich habe ich mich immer zur Mittelschicht gezählt"

Quelle: WELT

Personalberaterin, 49, Frankfurt am Main

Meine Tochter ist jetzt 16 Jahre alt, von Anfang an habe ich sie allein erzogen und war immer Vollzeit beschäftigt. Schon mit drei Monaten musste ich sie in Betreuung schicken, um Geld zu verdienen. Vorher war ich in leitender Position in einem großen Konzern tätig, aber dort hat man junge Mütter nicht gern gesehen.

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Nun habe ich einen Job als Personalvermittlerin, bei dem ich zwar weniger verdiene, aber mich mehr um meine Tochter kümmern kann. Früher haben wir Pauschalurlaube gemacht, es ging nach Gran Canaria oder in die Türkei. Jetzt ist wegen der horrenden Preise auch das nicht mehr möglich.

Ich gebe mittlerweile doppelt so viel Geld für Lebensmittel aus wie früher. Ich habe mal nach Ferienwohnungen in Holland geschaut - das günstigste Angebot war 1200 Euro für eine Woche. Und da sind ja nicht einmal die hohen Spritpreise mit einkalkuliert.

Für meine Tochter ist das besonders traurig. Sie soll doch auch mal was anderes sehen und erleben. Die Freunde fahren teilweise mehrmals im Jahr weg. Für sie war das immer okay, wenn wir nur einmal verreisen konnten. Doch jetzt muss meine Tochter sechs Wochen lang zu Hause abhängen. Das ist schon scheiße, glücklich ist sie damit nicht. Im September kommen dann alle aus dem Urlaub zurück und haben Geschichten zu erzählen.

Sie fragt natürlich, warum wir nicht wegfahren können, und macht Vorschläge für günstige Ausflüge. Ich erkläre ihr dann unsere finanzielle Situation, aber das macht es nicht besser.

Natürlich werden wir auch Tagesreisen machen, aber ich versuche gerade, alles Geld, das am Monatsende übrigbleibt, für die höheren Energiekosten und andere Unwägbarkeiten zurückzulegen. Ich kann es mir nicht leisten, im schlimmsten Fall die Mietwohnung zu verlieren.

Eigentlich habe ich mich immer zur Mittelschicht gezählt. Ich finde es erschreckend, dass man es sich trotz 40 Stunden Arbeit nicht leisten kann, dem eigenen Kind einen Urlaub zu finanzieren.

"Es fehlt einfach an Lebensqualität, wenn man keinen Urlaub machen kann"
Quelle: WELT

Disponentin, 41, Hückeswagen

Seit meiner Kindheit leide ich an einer Depression, die mit Schlafstörungen, Angstzuständen und Erschöpfung einhergeht. Wegen meiner Krankheit war ich zwischenzeitlich arbeitsunfähig und bin in Hartz IV gerutscht. Mittlerweile arbeite ich als Disponentin bei einem Fahrdienst im Gesundheitswesen. Urlaube sind seit Jahren dennoch kaum möglich.

2019 war ich mit meinem mittlerweile verstorbenen Lebensgefährten eine Woche lang auf der Nordseeinsel Texel. Um das zu finanzieren, bin ich drei Monate lang morgens um drei Uhr aufgestanden, um zusätzlich zu meinem Vollzeitjob Zeitungen auszutragen. Das war schon eine Hardcore-Belastung. 1000 Euro habe ich so zusammengespart. Seitdem konnte ich nicht mehr wegfahren.

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Hartz IV soll durch das sogenannte Bürgergeld abgelöst werden. Hubertus Heil (SPD) stellte nun seinen Gesetzentwurf vor. Saskia Esken (SPD) fordert gar eine "kräftige" Erhöhung beim Bürgergeld. Doch womit können die Bürger rechnen und welche Pläne hat der Bundesarbeitsminister?
Quelle: WELT

Es fehlt einfach an Lebensqualität, wenn man keinen Urlaub machen kann. Man will ja mal raus aus dem Alltag, wenn man freihat. Die Aussicht auf den Jahresurlaub ist ja auch etwas, worauf man hinarbeiten und sich freuen kann. Gerade wenn man unter Depressionen leidet, ist so ein Urlaub, der einen aus den negativen Gedanken reißt, natürlich doppelt so viel wert.

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Aber das ist aktuell nicht drin. Um die Bestattungskosten für meinen Lebensgefährten zu begleichen, musste ich einen Kredit aufnehmen, den ich immer noch abbezahle. Um mir einen Urlaub leisten zu können, müsste ich jeden Monat mindestens 100 Euro zurücklegen, und das geht eben nicht - vor allem wegen der steigenden Energiekosten. Ich spare ja jetzt schon, wo ich kann.

Ich kenne eigentlich nur Leute, die entweder andauernd verreisen oder sich gar keine Reisen leisten können. Früher hatte ich das Gefühl, das die Lebensverhältnisse angeglichener waren, mittlerweile geht die soziale Schere immer weiter auseinander. Gefühlt ist die sogenannte Mittelschicht gar nicht mehr vorhanden.

Wenn ich könnte, würde ich gern noch einmal an die Nordsee. Hauptsache ein Tapetenwechsel. Ich will ja gar keine großen Flugreisen unternehmen.

"Auch im Urlaub bleiben ja die Fixkosten bestehen"

Minijobberin in Hartz-IV-Bezug, 31, Velbert

Ich habe vier Kinder und lebe getrennt von meinem Mann. Die Beziehung war problematisch, rosig war in der Vergangenheit wenig.

Meine 13-jährige älteste Tochter hat Asthma, die anderen Kinder sind im Kleinkindalter. Ich habe eine Ausbildung zur Kinderpflegerin gemacht, lebe derzeit von Hartz IV, gehe aber als Minijobberin privat bei einer Familie putzen. Der einzige wirkliche Urlaub, den ich mal hatte, war 2013 ein Kuraufenthalt mit meiner Ältesten auf Amrum. Das war schön.

Bei einem Gewinnspiel habe ich einmal zwei Karten für ein Konzert des Sängers Pietro Lombardi gewonnen und wollte mit meiner Tochter dorthin. Mit den Regionalzügen hätte die Rückfahrt bis fünf Uhr morgens gedauert. Deshalb wollte ich ein Hotel buchen, konnte es mir aber nicht leisten.

Eine freundliche Helferin von der Tafel in Velbert hat mir dann 50 Euro in die Hand gedrückt. So konnte meine Tochter einmal mit Mama ein wenig Urlaub machen. Ihr Traum ist es, einmal nach Disneyland zu fahren.

Aber das geht nicht. Selbst, wenn man sich etwas leisten könnte. Auch im Urlaub bleiben ja die Fixkosten bestehen. Was nutzt einem der Tapetenwechsel, wenn man den Kindern vor Ort nichts gönnen kann? Stattdessen versuche ich, zumindest im Alltag darauf zu achten, dass die Kleidung für die Kinder nicht immer nur von Primark kommt, sondern auch mal ein Markenschuh dabei ist.

Ich rede mir meine Situation schön, indem ich mir sage, dass meine Situation nur eine begrenzte Zeit lang schwierig ist. Und ich habe Hoffnung. Meine Arbeitsvermittlerin ist nett und kooperativ. Mit einem Bewerbungscoaching will ich auf Teilzeit wieder ins Berufsleben einsteigen. Und dann will ich mir auch mal einen Urlaub leisten können.

Aber wie viele Arbeitsstellen werde ich wohl brauchen, um eine Reise für fünf Personen finanzieren zu können?


Quelle: welt.de


© infos-sachsen / letzte Änderung: - 16.01.2023 - 16:54